Der Ort, an dem aus den zwei verschiedenen Bildern ein ganzes wird, ist der visuelle Cortex. Dieser auch Sehrinde genannte Teil des Großhirns erstreckt sich in etwa vom Pferdeschwanz bis zu den Ohren. Dort werden die verschiedenen Aspekte eines Seheindrucks von spezialisierten Nervenzellen entschlüsselt: Farbe, Konturen,
Helligkeit, Bewegung ebenso
wie räumliche Anordnung und Ausdehnung von Objekten. Die für letzteres zuständigen Neuronen erhalten Input von der linken und der rechten Netzhaut und errechnen aus den Unterschieden, der retinalen Disparität, Informationen über die Entfernung.
So wichtig es für unsere räumliche Wahrnehmung ist,
dass die Augen zwei Abbilder der Außenwelt liefern, so lästig wäre es, beide auch getrennt zu erblicken. Denn dann wurden wir alles doppelt
sehen. Deshalb werden die beiden Bilder in der Sehrinde fusioniert, zu einem einzigen Gesamtbild.
Wie dieses aus zwei mach eins funktioniert, ist noch unklar. Aber es funktioniert und lässt uns
sehen, als wären wir ein Zyklop mit nur einem Auge in der Mitte. Meistens jedenfalls. Manchmal gießen aber plötzlich zwei Barmänner Drinks ein und zwei südländische Schönheiten rekeln sich synchron an der Theke. Dann hat man zu tief ins Glas geschaut. Denn viel Alkohol bringt die vom Kleinhirn gesteuerte Koordination der Augenbewegungen so durcheinander,
dass
das Gehirn die Bilder der beiden Augen nicht mehr vereinen kann.
Gezielt Schielen
Wie sich unsere Augen bewegen, spielt auch eine Rolle bei den okulomotorischen Tiefenhinweisreizen. Dabei gewinnt
das Gehirn aus den Bewegungen der Augen Informationen über die räumliche Tiefe. Allerdings geht
das nur auf kurzen Distanzen, also etwa wenn wir unseren Beifahrer anschauen, während er sich zu uns rüber beugt. Je näher er uns kommt, desto stärker drehen sich unsere Augen zu unserer Nase hin, um ihn zu fixieren. Gleichzeit spannen sich im Auge die Ziliarmuskeln an stärker an, um
das Bild scharf zu stellen, zu akkommodieren,
wie man sagt. An der
Konvergenz, also
wie stark wir schielen, und der Anspannung der Muskeln, erkennt
das Gehirn,
wie nah uns unser Beifahrer ist. Ob dieser relativ ungenaue Mechanismus überhaupt zum räumlichen
Sehen beiträgt und wenn ja in welchem Ausmaß, ist bei Wissenschaftlern umstritten. „Es würde mich jedoch wundern, wenn
das Gehirn Information, die ihm unmittelbar zur Verfügung steht, nicht nutzt“, meint der Biopsychologe Professor Onur Güntürkün von der
Ruhr-Universität Bochum.
Tiefe erkennen mit nur einem Auge
Konvergenz und stereoskopisches Sehen sind binokulare Tiefenhinweisreize: Um sie zu nutzen, braucht man zwei intakte Augen. Doch obwohl er seit der Jugend nur auf einem Auge sieht, erzielte der ehemalige Fußball-Nationalspieler Wilfried Hannes 62 Tore in der Bundesliga. „Entfernungen waren schon schwieriger einzuschätzen.“, bestätigt Hannes. Dass er den Ball trotzdem ins Tor zirkelte, liegt daran, dass sogenannte monokulare Hinweise dem Gehirn helfen, mit nur einem Auge Tiefe zu erkennen.
Wenn der Gegenspieler den Torwart verdeckt, steht der Gegner dichter vor einem. Das weiß nicht nur Winfried Hannes aus Erfahrung. Diesen Tiefenhinweis der Interposition nutzt das Gehirn. Auch die Schatten des Mitspielers und Gegenspielers verraten etwas über deren Position und Entfernung. Ebenso zeigen Muster Tiefe an: Grashalme in der anderen Spielfeldhälfte wirken dichter beieinander als direkt vor einem. Wer im Fußballtor steht, kann den Hinweis der linearen Perspektive erkennen. Die parallelen Tribünen und Spielfeldränder scheinen sich in der Ferne anzunähern. Pass, Flanke, Schuss, Tor. Durch die schnellen Bewegungen beim Fußball kommt noch ein weiterer Tiefenhinweis ins Spiel, die Bewegungsparalaxe: Wenn Hannes zum Tor dribbelt, bewegen sich nähere Mitspieler schneller über seine Netzhäute.
Monokulare, binokulare und okulomotorische Tiefenhinweise prasseln gleichzeitig auf uns ein. Je mehr Hinweise, desto besser können wir Entfernungen schätzen.
Wie ein Detektiv addiert
das Gehirn die Indizien auf und untermauert so einen räumlichen Eindruck. Bilder mit widersprüchlichen Kombinationen von Tiefenhinweisen
wie das berühmte Treppenbild von M.C. Escher bringen unsere räumliche Orientierung daher ins Schleudern. In der Realität vertraut
das Gehirn im Zweifel dann den Informationen, die
das stereoskopische
Sehen liefert.
Wahre Größe erkennen
Eng verknüpft mit der Tiefenwahrnehmung ist die Größenwahrnehmung. Tur-Tur, der Scheinriese aus dem Kinderbuch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“, wirkt immer riesiger, je weiter er sich entfernt. In der Wirklichkeit ist es genau anders herum: Wenn eine Person sich von uns entfernt, schrumpft ihr Abbild auf unserer Netzhaut. Dennoch nehmen wir sie nicht als Scheinzwerg wahr. Dieses Phänomen, die Größenkonstanz, hängt eng mit der Tiefenwahrnehmung zusammen. Je weiter ein Objekt weg ist, desto kleiner ist sein Abbild auf der Netzhaut. Wie ein Landvermesser entschlüsselt das Gehirn aus der Distanz und der Größe des Abbildes die reale Größe und verhindert, dass bei jedem Schritt alle Eichen, Menschen oder Sportwagen um uns herum wachsen oder schrumpfen.
Wenn unser Gehirn Größen schätzt, lässt es sich außer von der Distanz auch von Gewohnheit und Relationen lenken. Der Basketballer Dirk Nowitzki erscheint trotz seiner 2,13m beim Basketballspiel nicht besonders groß. Was daran liegt, dass er von anderen ähnlich großen Spielern umgeben ist, die uns als der Maßstab gelten, an dem wir uns in dieser Situation orientieren. Erst wenn sich ein Fan mit normalen Durchschnittsmaßen neben ihn stellt, realisieren wir, wie riesig der Star der Dallas Mavericks tatsächlich ist.
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- Darstellung einer Ponzo-Illusion, bei welcher der rechte Balken durch die zusammenlaufenden Linien größer wirkt, obwohl er genauso groß ist wie der andere Balken.
Riesenmond und andere Täuschungen
Wenn wir ein Objekt fälschlich als weiter entfernt einschätzen, wirkt es größer.
Das illustriert eindrucksvoll die Ponzo-Illusion (siehe Bild), benannt nach dem italienischen Psychologen Mario Ponzo (1882 bis 1960). Die beiden Balken sind tatsächlich gleich groß. Doch der rechte wirkt durch die zusammenlaufenden Linien, die wir aus der Realität als Hinweis für zunehmende Distanz kennen, weiter weg und dadurch größer. Wissenschaftler vermuten,
dass sich so auch die Mondtäuschung erklären lässt. Wenn der Mond hoch oben am Nachthimmel steht, wirkt er
wie ein Tennisball, nah am Horizont dagegen riesig.
Das Bild des Mondes auf unserer Netzhaut ist jedoch gleich groß. Wenn wir zum Horizont blicken, schweift unser Blick vorbei an Häusern, Feldern, Kühen. Wenn wir dagegen in den Himmel schauen, blicken wir durch leeren Raum ohne Tiefeninformation. Daher scheint der Mond am Horizont weiter entfernt und unser
Gehirn schlussfolgert,
dass er riesig sein muss.
Es gibt einen ganze Reihe optischer Illusionen
wie die von Mario Ponzo, die demonstrieren,
dass die räumliche Wahrnehmung durchaus trügerisch sein kann. Die meisten funktionieren aber nur auf dem Bildschirm oder dem Papier,
das heißt, wenn die dritte Dimension fehlt. Die ist in der realen Welt aber vorhanden, und deshalb lässt sich
das Gehirn dort, vom Mond mal abge
sehen, nur selten düpieren. „Täuschungen kommen vor allem dann vor, wenn
das Gehirn wenig Information hat. In der dritten Dimension sind die Effekte daher immer kleiner“, erklärt der Kognitionspsychologe Professor Rainer Guski von der Ruhr-Universität Bochum. Man kann als guten Gewissens beim Einparken entspannt bleiben, denn im Kopf sitzt ein höchst kompetenter Landvermesser. Nur hinschauen sollte man.
Quelle und Bild:
http://dasgehirn.info/